An einem frühen Augustabend kam ich vom Einkaufen zurück. Du standst an der Haltestelle, wartend, mit irgendeinem Kumpel Händchen haltend und küssend, auf den Bus. Alles rein platonisch.
Seit einigen Wochen kannte ich Ria flüchtig und wollte doch gleich schon mit ihr flüchten, als ich sie das erste Mal sah. Irgendwohin, auf eine einsame Insel, oder wenn es nicht anders ging: in mein einsames Schlafzimmer.
Mein gerne Schwarz tragender Kumpel Ron hatte uns erst vor einigen Wochen auf einer gemeinsamen Feier bekannt gemacht.
»Hey, Ria, kennst du schon Stefan?« Und weg war er.
Nach fünf Minuten Smalltalk war leider auch Ria wieder weg.
Als du meine Blicke an diesem Augustabend in deinem Rücken spürtest, drehtest du dich um und fragtest mich, ob ich denn morgen Abend auch zum Strand käme. Strandfeier in Warnemünde. Ich schaute dich kurz an, überrascht und erfreut über diese Einladung, und da musste ich einfach Ja sagen. Ein Lächeln huschte über dein Gesicht. Dann kam der ÖPNV, und du bist Händchen haltend in diesen hässlichen Bus eingestiegen, der ganz plötzlich aus dem Nichts kam. Du verschwandst aus meinem Blick, und auch nach Stunden kam der Bus nicht wieder mit dir zurück. Erst als es anfing zu regnen, ging ich mit meinen Einkaufstüten nach Hause.
Der nächste Tag brachte eine Unmenge an weiterem Regen, und ich dachte über den ach so lang ersehnten Abend nach: Ob wir denn noch zum Strand fahren? Oder nicht? Und wenn nicht, wohin fahren wir dann …
Da klingelte Ron mich aus meinen Gedanken.
»Moin, Alder, was geht?! Alles senkrecht bei dir?«, begrüßte er mich.
»Moinsen, Digger, ʼtürlich, alles vertikal hän-gend! Du sag mal, ich habe Ria gestern getroffen, und sie meinte, ihr wollt nachher zum Strand. Ist das überhaupt noch aktuell bei dem Wetter?«
»Klaro! Die paar Tropfen bringen uns schon nicht um. Am Strand gibt’s noch viel mehr Wasser. Verstehste: Meerwasser.« Bei diesem Wortspiel lachte Ron sich eins ins Fäustchen und meinte dann weiter, dass wir dort bestimmt nicht lange bleiben würden, und er sprach geheimnisvoll von dem Haus. Dann legte er auf.
Für mich war der Strand zwar ein schöner Ort, doch abends war es dort kalt, feucht und nicht gerade romantisch. Zumindest nicht, wenn ich nicht alleine mit Ria dort liegen könnte. Mir gefiel der Gedanke an ein Haus. In einem Haus konnte man auch im Warmen und Trockenen nebeneinander liegen. Vielleicht würde sich auch ein einsames Schlafzimmer für zärtliche Zweisamkeiten finden lassen …
Ron holte mich gegen neunzehn Uhr ab, und wir gingen dann langsam los zum Treffpunkt: eine Bus-haltestelle in einiger Entfernung zum Strand. Und da standst du! Noch schöner als ich dich in Erinnerung hatte, diesmal nicht mit Zöpfen, sondern mit langen, offenen, dunklen Haaren, die betörend im Winde wehten. Du hattest wieder dieses Lächeln auf deinen geschlossenen Lippen, welches einem den Verstand rauben konnte.
Ich wollte Ria die Hand reichen, aber sie umarmte mich lieber ¬– wie die anderen Typen leider auch. Trotzdem, bei uns war es anders, irgendwie herzlicher, irgendwie wärmer, irgendwie länger.
Wir warteten noch einige Minuten auf den Rest meiner neuen Clique, die ich nicht kannte, aber die den Alkohol in ihren schwarzen, mit Sicherheitsna-deln und Buttons verzierten Rucksäcken hatte.
Erst als wir dann alle zusammenstanden – drei Frauen und sieben Männer –, ging’s mit dem Bus in Richtung Strand. Natürlich fuhren wir schwarz, wie es in dieser Gruppe anscheinend üblich war. Ich besaß zwar eine Monatskarte, aber das musste ich ja nicht groß herumposaunen.
Doch wir kamen gar nicht am Strand an, denn wir stiegen alle schon vorher aus, weil wir beschlossen hatten, dass es bei Regen nichts bringen würde, am Wasser zu feiern.
Wäre ich ein Klugscheißer, hätte ich gemeint: Ich habe es ja gesagt!
Aber so einer bin ich nicht, und deshalb meinte ich nur grinsend zu Ron: »Erinnerst du dich an unser Telefonat?«
Er sah mich etwas verärgert an, während ich Ria und ihrem bezaubernd wackelnden Hintern folgte.
Währenddessen ging es zum Haus. Na, da war ich ja gespannt, was mich erwartete. Ein Palast, ein Schuppen, ein Baumhaus?
Wir liefen im Regen noch etwa zehn Minuten an der Straße entlang, und dann stand ich vor einer fensterlosen Gebäuderuine mit abgebröckeltem Putz, die bestimmt bald dem Erdboden gleich ge-macht werden sollte. Überall lose Scheiben, Scher-ben und anderer Schutt. Aber auch du und ich – und der Rest der Clique.
Einige Typen setzten sich auf Kissen oder ande-re weiche Gegenstände, die sie schon früher einmal mitgebracht hatten, und ich fand rein zufällig einen Platz auf dem harten Beton in deiner Nähe. So machten wir es uns in der zweiten Etage alle weitestgehend gemütlich. Ein paar Backsteine dienten auch als Sitzmöglichkeiten, aber viele standen sowieso die meiste Zeit oder gingen durch die Etagen, um etwas zu zertrümmern, was bisher auf unerhörte Weise noch ganz geblieben war.
Nacheinander holte jeder sein Bierchen heraus und fing langsam ein Gespräch an. Nur ich, da ich ja eigentlich keinen so richtig kannte und Ron und Ria im Gespräch waren, stand etwas abseits herum. Da kramte ich meine zwei Geheimwaffen heraus: Jim Beam und Havanna. Schon fertig gemixt mit Cola. Schließlich, so hatte ich gedacht, wird es eine richtige Saufparty am Strand. Für alle Fälle hatte ich sogar eine Badehose untergezogen. Das war was für die zwei Mädels und auch für dich; du sahst mich und meinen Alkohol endlich mit leuchtenden Augen an. Plötzlich stand ich im Mittelpunkt und durfte immer mal freudig einen Schluck abgeben … So kam dann auch ich in die Gesprächsrunden hinein.
So verging die Zeit mit vielen feuchtfröhlichen Gesprächen, die begannen mit »Wie heißt du eigentlich?« und endeten bei »Schön, dich kennenzulernen!« …
Mein Kumpel Ron hatte auch getrunken, aber wohl ein wenig zu viel, zu Starkes und in zu kurzer Zeit, denn nach einer Weile meinte er zu mir, er sei voll, seine Flaschen leer, ihm sei schwindelig, und er müsse nach Hause.
»Jetzt noch nicht!«, protestierte ich und meinte, dass er noch ’ne Stunde oder drei durchhalten solle, dann würde ich auch mitkommen. Du, Ria, hattest mir nämlich gerade einiges an den Wänden gezeigt, was du selbst dorthin geschrieben oder reingeritzt hattest. Wir hatten also den ultimativen Gesprächs-stoff und verstanden uns dabei super. Und viel wichtiger: Wir standen alleine unter dem Sternenhimmel, der leider durch die Wolken nicht zu sehen war.
»Nächstes Mal schreibe ich auch was dazu!«, kündigte ich dir an.
Du freutest dich schon darauf.
Ich dachte an ein Herz mit unseren beiden Namen darin.
Aber mein Kumpel war viel zu zu, um das zu verstehen, und er fing an zu betteln und zu nerven, auch tat er mir minimal leid. So torkelnd hatte ich ihn noch nie erlebt. Wobei ich mit ihm noch nie richtig saufen gewesen war.
Die anderen winkten nur ab. »Nicht drauf hören! Der wird schon noch irgendwann wieder von alleine nüchtern.«
Tolle Freunde!, dachte ich mir und fasste einen Entschluss. Ich wollte Ron nur fix zum Bus bringen und dann wiederkommen. So verabschiedete ich mich langsam bei dir und begründete, dass ich Ron nicht alleine gehen lassen könnte. Er würde den Weg nicht nach Hause finden, sondern nur unter ein Auto.
Du sahst mich mit einem Lächeln an, das deine strahlend weißen Zähne zeigte, doch schautest du auch ein wenig traurig. »Geh lieber nicht! Er kommt schon alleine zum Bus.«
Ich sah zu Ron rüber, sah, wie er durch die Scherben schlitterte, und sagte, gleich darauf es schon wieder bereuend: »Nein, das schafft er nicht!«
So drückte ich dich schüchtern mit beiden Armen sowie dir meinen schon fast leeren Jim Beam als Zeichen meiner Freundschaft in die Hand. Danach wendete ich mich langsam und mit feuchtem Blick (wahrscheinlich eine Allergie oder so etwas) von dir ab, meinem kaum klar kombinierendem Kumpel hinterhergehend.
Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen, wenn überhaupt, dann nieselte es nur noch ein wenig aus den dunklen Gebilden am Himmel, die sich zur schwarzen Nacht vereinten.
Ich brachte Ron zum Bus, langsam und vorsichtig. Sah, wie er einstieg, und wollte schon wieder zu dir zurück, als Ron im Bus meinte, auf halbem Wege zu seinem Sitzplatz, sein Inneres herauslassen zu müssen. Noch bevor der Bus die Türen öffnen konnte, erbrach er in einem vollen Bogen auch schon auf dem Busausgang.
So musste ich ihn bis nach Hause bringen. Mein Herz zerbrach bei jedem Schritt auf dem darauf folgenden längeren Fußmarsch. Wir trafen dann noch einen Kumpel von ihm, der ihn auslachte und mir viel Glück wünschte mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Nachdem ich ihn eine gute Stunde später an seiner Wohnungstür abgeliefert hatte, ging ich im Dunkeln weiter zu mir nach Hause. Alleine. Wieder zurück brauchte ich nun auch nicht mehr. Ich wollte dich benachrichtigen, dabei fiel mir ein, dass ich deine Nummer noch gar nicht hatte.
Später dachte ich die ganze Zeit nur an dich – bis mich ein Traum aus der Realität holte – und auch in meinen unterbewussten Fantasien sah ich immer wieder dein Lächeln und ein Herz in Beton mit unseren Namen.
Die nächsten Tage brachten neben Kopfschmer-zen nur die Erkenntnis, dass Ria in dieser Nacht mit einem anderen Typen ins Bett gegangen war …
(2006)
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