Es ist ein harter Weg für mich. Mit der Linie 4 fahre ich an der Haltestelle Friedhofstraße vorbei und dann mit gesenktem Blick weiter die „Krankenhaus-Route“ entlang: St.-Joseph Stift, DRK-Krankenhaus, Rolandklinik und zuletzt das Klinikum Links der Weser. Meinem Ziel.

In meinem Hals bildet sich ein Kloß. In welcher Verfassung werde ich dich vorfinden? Wie sehr hast du dich in den Wochen seit unserem letzten Treffen verändert? Jeder zurückgelegte Meter lässt mein Herz fester schlagen, doch richtig schlimm wird es erst, als ich aussteige. Obwohl ich es eilig haben sollte, wirken meine Beine schwach und schwer.
Langsam, als wären meine Glieder aus Beton, gehe ich an der Liebesstatue vorbei und lese zwei ihrer unzähligen Zitate: „Liebe ist wie ein Leuchtturm. Auch beim stärksten Sturm leuchtet sie.“ Oder: „Große Liebe schenkt auch kleinen Leuten große Kräfte.“ Auch wir hatten etwas ganz Besonderes, doch seitdem der Sturm über dich hereinbrach, brauchen wir diese großen Kräfte mehr denn je.
So trüb und grau wie meine Gedanken ist auch der Himmel. Regentropfen rinnen über mein Gesicht. Die Welt verschwimmt schon wieder vor meinen Augen.
Weiter geht es über die Straße und am riesigen Gebäude entlang, in dem Du Dich jetzt befindest. Halb automatisiert, halb unter Zwang ziehen mich meine Beine immer weiter bis zum Haupteingang. Hier bleibe ich stehen und starre lange auf die Drehtür, dann gehe ich hindurch.
Ich schleppe mich durch endlose Flure mit unendlich vielen Abzweigungen. Immer weniger Menschen begegnen mir. Die Geräusche werden leiser und das Licht gedämpfter. Du liegst auf einer weit abgelegenen Station. Natürlich ist das gewollt. Aber hast du verdient, die letzten Tage in Einsamkeit zu verbringen? Die Hoffnung ist bereits gestorben, aber muss auch deine Umgebung wie ausgestorben sein?
Noch eine Treppe hinunter und dann bin ich da. Angekommen am Ende. Angekommen auf der Palliativstation.
Totenstille. Ich stehe am Treppenende. Es fällt mir schwer, meine Beine zum Weitergehen zu bewegen. Ich atme, atme tief und versuche, meinen hämmernden Puls zu beruhigen.
Ich würde vermutlich noch Stunden hier stehen, da kommt eine Schwester auf mich zu, reißt mich aus meiner Erstarrung und fragt mich, ob sie mir helfen kann. Ich sage ihr, dass ich zu dir will. Sie nennt mir deine Zimmernummer und bietet mir an, mich zu begleiten, doch ich schüttele den Kopf. Das werde ich doch auch alleine schaffen.
Wenige Augenblicke später stehe ich vor deiner Tür. Diese braune Holztür ist nun das Einzige, was zwischen uns ist. Doch ich würde lieber noch Kilometer laufen, als diese wenigen Schritte zu gehen.
Ich starre auf die Tür. Auf ihrer Oberfläche entdecke ich zwei Schrammen. Woher die wohl stammen? Alles scheint mir interessanter, als diese Tür zu öffnen. Mein Blick sucht etwas anderes, woran er sich festhalten kann und findet auf der Fensterbank eine Vase mit einer verwelkten Lilie. Nichts hält für die Ewigkeit. Eine große Wanduhr verrät mir, dass schon fünf Minuten vergangen sind … Ich schaffe es nicht diese verdammte Tür zu öffnen!
Mir wird heiß und ich wedele mir Luft zu. Zehn Minuten vergehen. Immer wieder schaue ich Wandbilder im Flur an, schaue aus dem Fenster, auf die verwelkte Blume, auf meine Füße, auf die Tür, auf die Uhr … Es scheint, als ob der Sekundenzeiger immer lauter voran schreitet.
Warum schaffe ich es nicht reinzugehen? Was lähmt mich so? Ist es die Angst, wie du dich verändert haben könntest? Ist es die Ungewissheit, wie ich mit dieser Situation umgehen soll?
Ich schaffe es nicht alleine. Mit hängenden Schultern gehe ich zurück zur Schwester und fühle mich fast wie ein kleines Kind, als ich sie frage, ob sie nicht doch mitkommen kann.
Die Schwester nickt verständnisvoll und begleitet mich. Sie klopft leise an und öffnet deine Tür.
Vorsichtig schaue ich an der Schwester vorbei in dein Zimmer. Da liegst du: Dein Schädel fast kahl. Deine geschlossenen Augen in dunklen Höhlen liegend. Deine farblosen Wangen tief eingefallen. Deine Nase sichtbar mit Schläuchen verbunden, ebenso deine Arme. Der Rest deines Körpers ist unter einer wärmenden Decke versteckt.
Während die Schwester sich still aus dem Zimmer zurückzieht, gehe ich langsam auf dich zu und flüstere deinen Namen. Mein Blick ruht auf dir. Du atmest, bist aber nicht ansprechbar. Du bist nicht ansprechbar, aber am Leben. Du bist am Leben und atmest. Noch am Leben. Keine Ahnung, wie viele Tage noch.
Natürlich habe ich gehofft, dass ich mit dir sprechen kann. Wenn auch nur wenige Worte. Das würde alles leichter machen. Doch selbst wenn du wach wärst, wärst du vermutlich zu schwach zum Reden. Ich weiß auch nicht, was ich dann sagen würde. Schön dich zu sehen!? Wie geht’s dir?? Verfolgst du die Fußball-EM??
Das alles wäre irgendwie fehl am Platze.
Nein, du bist fehl am Platze. Du gehörst hier nicht hin. Nicht in dieses Zimmer, nicht in dieses Bett und nicht in dieser Verfassung …!
Doch heute will ich von dir Abschied nehmen. In Ruhe. Solange noch Leben in dir steckt.
Ich setze mich zu dir, nehme deine Hand und erinnere mich an die Orte, an denen wir zusammen waren: Im Rhododendronpark, wo wir unsere schönsten Gespräche führten, werden nun andere spazieren gehen. Am Werdersee, wo wir die weitesten Strecken schwammen, werden sich nun andere sonnen. An der Schlachte, wo wir die leckersten Cocktails tranken, werden nun andere feiern. Bei dir zu Hause, wo wir die unterhaltsamsten Nächte verbrachten … Dein Zuhause gibt es nicht mehr. In deiner Wohnung lebt nun jemand Fremdes. Jetzt ist nur noch dieses kleine Zimmer übrig und du wirst es nicht lebend verlassen. Wir wissen es beide, aber ich kann es nicht verstehen. Diese verdammte Krankheit! Krebs! Warum jetzt? Warum du? Warum überhaupt jemand?
Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Ich muss aus diesem Zimmer, aus diesem Gebäude raus. Raus an die frische Luft …
Ein letztes Mal drücke ich deine warme Hand und mir ist, als ob auch du meine ein bisschen zurückdrückst.
Leb wohl. Das nächste Mal treffen wir uns an der Linie 4, an der Friedhofstraße.

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