Jessica fuhr in die Auffahrt zu ihrem Haus. Es war zwar gerade erst Montag, aber der hatte Jessica schon so erschöpft, als sei bereits Freitag: Die Kollegen hatten sie mit dummen Fragen genervt, der Chef mit anspruchsvollen Aufgaben gefordert und wichtige Papiere lagen auch schon seit Tagen auf ihrem Schreibtisch.

Nun schaute sie abgekämpft, aber froh auf ihr Heim. Vor zehn Jahren hatte sie sich dieses kleine, aber reizvolle Haus durch einen günstigen Kredit kaufen können. In weiteren zehn Jahren würde es bereits ihr gehören und nicht mehr der Bank.

Bei dem Gedanken daran lächelte Jessica und strich sich die langen, blonden Haare hinter die Ohren. Doch heute wollte sie nur noch eins: Die Heizung hochdrehen, sich warme Socken überziehen, die Füße hochlegen und mit einem Glas Wein und einem netten Film den Abend in einem weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer ausklingen lassen.

Jessica nahm ihre Arbeitssachen vom Beifahrersitz, schloss den etwas in die Jahre gekommenen BMW ab und ging zur Haustür. Da fiel ihr ein, was sie vergessen hatte. Sie drehte sich um und ging zu ihrem silbernen Briefkasten vorne an der Straße. Sie zog Prospekte, die Tageszeitung, eine Rechnung von der Telekom und einen roten Briefumschlag heraus.

Seltsam. Wer verschickte denn heutzutage noch Briefe? Sie nahm alles mit ins Haus und zog sich etwas Bequemes an.

Fertig umgezogen ging sie in ihre moderne Küche zur großen Gefriertruhe, holte sich eine der zahlreichen Tiefkühllasagnen heraus und schob sie in die Mikrowelle. Während die Lasagne auftaute, schenkte sie sich ein Glas italienischen Rotwein ein und schaltete den Fernseher an. Ausgestattet mit der fertigen Lasagne lümmelte sie sich wenig später auf ihre Eck-Couch unter eine große kuschelige Decke.

Nach dem Essen fiel ihr die Post wieder ein. Jessica überprüfte die Prospekte nach Angeboten, fand aber nichts Brauchbares, vielleicht auch, weil ihr Blick immer wieder auf den Brief fiel. Wer ihn wohl geschrieben hatte? Trotzdem wollte sie sich den bis zum Schluss aufheben.

Die Zeitung enthielt nur wenige interessante Artikel, sodass sie schon sehr bald die Rechnung auf ihre Richtigkeit überprüfen und weglegen konnte; bis nur noch der geheimnisvolle Brief übrigblieb.

Voller Spannung nahm sie ihn in die Hand. Die Adresse sagte ihr nichts, aber der Absendername. Sie riss den Briefumschlag auf und holte ein handbeschriebenes Blatt Papier heraus. Ihr Herz raste, ihr Mund öffnete sich langsam und sie bekam feuchte Augen.

Der Brief war in ziemlich krakeliger Schrift geschrieben, sodass sie nicht wie gewohnt querlesen konnte. Jessica las den Inhalt noch einmal, diesmal langsamer, und dabei kullerten die ersten Tränen über ihr schmales, blasses Gesicht.

Nachdem sie sich erneut durch die wenigen Zeilen gekämpft hatte, legte sie den Brief zur Seite und saß einfach nur da und starrte ins Leere. Sie blinzelte die Tränen weg und griff gedankenverloren zu ihrem Rotweinglas, das sie in einem Zug leerte.

Die berauschende Wirkung nahm für einen Moment die Unfassbarkeit des Textes, doch schon bald, kehrte sie umso heftiger zurück. Jessica genehmigte sich noch einen doppelten Whisky aus der Minibar. Ihr Herzschlag und das Zittern ihrer Hände beruhigten sich daraufhin langsam wieder.

Sie ging ans Fenster und schaute raus, doch von den einzelnen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, bekam sie nichts mit. Sie befand sich mitten in einem Sturm aus Gedanken und Erinnerungen.

Zwei Tage später wählte sie die bekannte und trotzdem fast in Vergessenheit geratene Nummer und telefonierte fast drei Stunden lang mit ihrer Mutter.

Anfangs verlief das Gespräch sehr holperig. Es fielen zornige und wütende aber auch versöhnliche Worte auf beiden Seiten.

Das Gespräch zu führen, war wie einen überladenen, offenen Laster einen Berg hochzufahren. Die Pakete darauf waren gefüllt mit Schuldzuweisungen und Enttäuschungen. Doch jedes Wort, das sie wechselten, ließ ein Paket herunterfallen und Jessica fühlte sich danach leichter und freier. Obwohl der Berg noch immer existierte, konnte sie sicher sein, den Gipfel zu erreichen.

Da das Gespräch beiden guttat – es wurde sogar gelacht – vereinbarten sie zum Ende, dass Jessica sie am Heiligabend besuchte.

Die nächsten Tage konnte sie sich kaum noch auf ihre Arbeit konzentrieren. Jedes Dokument musste Jessica mindestens dreimal lesen. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften und sie zurück an ihre Kindheit und Jugend mit ihrer Mutter dachte. Da es nicht besser wurde und ihre Arbeit immer mehr darunter litt, nahm sie sich zusätzlich zu ihrem bereits geplanten Weihnachtsurlaub auch noch den 23. Dezember frei.

So konnte Jessica schon frühzeitig alles zusammenpacken und ihren Haushalt auf Vordermann bringen. Da dieser aber generell ordentlich war – nicht zuletzt durch eine gute Haushaltshilfe, die einmal die Woche kam – galt das Aufräumen wohl eher ihren Gedanken und ihrer Aufregung als der Wohnung. Trotz des teuren Geschirrspülers wusch sie ihr Geschirr diesmal mit der Hand ab, und mit jedem sauberen Besteck- und Geschirrteil wurden ihre Gedanken etwas klarer.

Am 24. Dezember überprüfte sie ihr Aussehen nochmal im Spiegel. Die Frisur war elegant hochgesteckt, was super zu ihrem blauen Blazer aussah. Aber ihr Gesicht … Es sah zwar bereits gut aus, aber Jessica benutzte lieber noch etwas mehr Make-up. Doch dann dachte sie, ihre Mutter könnte an ihr herummeckern, wenn sie zu stark geschminkt wäre. Sie wischte ihr Make-up vorsichtig wieder ab und schminkte sich danach dezenter. Als sie zufrieden war, füllte sie Kaffee in eine Thermoskanne und ging mit der Kanne und einem vollgepackten Reisekoffer zu ihrem BMW.

Anschließend kratzte sie nicht nur mühsam die Autoscheiben, sondern fegte auch verärgert die Ausfahrt frei. So viel Schneefall im Dezember war ziemlich ungewöhnlich, doch ihre Gedanken kreisten mehr um ihre Mutter, als um das Wetter. Dann stieg sie endlich ins warme Auto.

Das Navi zeigte eine Fahrzeit von vier Stunden an, Jessica bezweifelte das. Die Straßen waren voll Schnee und die Feiertage taten ihr Übriges dazu.

Ihre Vermutung bewahrheitete sich nach einer Stunde, als sie im ersten Stau stand. Wenigstens konnte sie sich nun in aller Ruhe den Kaffee eingießen, während im Radio ‚Last Christmas‘ lief. Wie viele Weihnachten hatte sie dieses Lied schon bewusst gehört? Schon in ihrer Kindheit? Wie waren die Weihnachtstage damals, als sie von allen nur Jessie genannt wurde? Was führte zu der entscheidenden Trennung zwischen ihr und ihrer Mutter? Was ist seitdem alles bei ihnen passiert? Wie würde sie wohl heute aussehen? Und vor allem: Fehlte ihr ihre Mutter nach all der langen Zeit?

Als sie nach sechs Stunden Autofahrt vor dem in die Jahre gekommenen Mehrfamilienhaus ihrer Mutter ankam, fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Weihnachtsgeschenk dabei hatte. Jessica wollte gerade wieder ins Auto steigen, als die Haustür aufging und ihre Mutter nach Jahren wieder vor ihr stand. Sie war dünner geworden und sah nicht nur um einige Jahre älter aus, als sie war, sondern auch sehr kränklich. Trotzdem lächelte die 53-jährige Frau Jessica erwartungsvoll an. Etwas verwirrt und unsicher, was sie sagen sollte, sprach Jessica das Erste aus, was ihr einfiel:

„Frohe Weihnachten, Mutti. Ich habe leider gar kein Weihnachtsgeschenk für dich!“

„Das größte Weihnachtsgeschenk, das du mir machen konntest, ist, dass du hier bist, Jessie!“, sagte ihre Mutter mit Tränen in den Augen.

Sie nahmen sich weinend in den Arm und drückten sich, bis der eisige Wind beide zum Zittern brachte und sie reingehen mussten.

Die Wohnung war kaum weihnachtlich geschmückt. Kein Weihnachtsbaum, sondern nur ein einzelner kleiner Weihnachtsmann aus Plastik stand in einem der Billy-Regale. Das konnte Jessica nicht so lassen. Sie fragte ihre Mutter nach Dekoration, und nur eine Minute später ging sie in den Keller und brachte alles an Weihnachtsdekoration mit nach oben, was sie finden konnte. Zusammen platzierten die beiden Frauen die Deko in der gesamten Wohnung. Die Mutter hatte alleine nicht mehr genug Kraft, diese Dinge hochzuholen und zu verteilen.

Doch als sie wenig später das Radio einschalteten und Weihnachtslieder durch die Wohnung tönten, war auch in dieser Wohnung der Geist von Weihnachten angekommen. Oder war er bereits da, seit sich Mutter und Tochter in den Armen lagen; nur in einer anderen Form?

Sie verbrachten zu zweit eines der traurigsten, aber auch gleichzeitig schönsten Feste, die sie je zusammen verlebten. Sie hatten einiges zu bereden. Über vergangene Fehler, aktuelle Ängste bis hin zu zukünftige Plänen und sie ließen sich ausgiebig Zeit damit. Dabei merkten sie jeden Tag mehr, wie sehr sie einander gefehlt hatten.

Jessica verlängerte sogar ihren Urlaub und blieb ganz ungeplant noch bis zum Neujahrsfest. Beide schauten an dem Tag zusammen in den von Feuerwerksraketen aufleuchtenden Himmel und drückten sich bei jedem Knall fest die Hände.

Am nächsten Tag musste Jessica wieder zurück nach Hause und zur Arbeit. Sie wünschte ihrer Mutter viel Glück für die anstehenden Behandlungen und meinte, dass alles gut gehen würde. Sie sollte sich jeden Abend bei ihr melden und sie auf dem Laufenden halten. Und Jessica würde versuchen, jedes Wochenende ins Krankenhaus zu kommen, ihre Hand zu halten und für sie da zu sein.

Liebe Jessica,
wie beginnt man einen Brief, wenn man sein Kind zwanzig Jahre nicht gesehen hat? Ich weiß, ich hätte schon viel früher diesen Brief schreiben sollen. Oft genug habe ich es versucht – und dann lag das Blatt Papier zusammengeknüllt im Papierkorb. Ich wusste nicht, wie ich diesen Brief am besten schreiben kann und nun hoffe ich, dass der Brief dich überhaupt erreicht. Ich dachte, ich hätte noch so viel Zeit, doch nun hat mir das Schicksal die Zügel aus der Hand genommen: Ich bin krank, sehr krank sogar und ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. Es wurde bei mir fortgeschrittener Lungenkrebs entdeckt. So rächt sich das jahrelange Rauchen. Ich habe Angst, Jessica. Die Behandlung schlägt nicht an, deshalb werde ich ab Januar intensiver behandelt, auf Station, aber die Ärzte machen mir wenig Hoffnung. Ich habe dich immer geliebt. Es tut mir unendlich leid, was passiert ist und ich wollte, ich könnte es rückgängig machen. Leider ist das nicht möglich. Es ist nicht normal, dass Mutter und Tochter so lange keinen Kontakt haben und ehrlich gesagt – alle Gründe, aus denen wir damals auseinandergingen, sind nun weg. Da meine Zukunft vielleicht nicht mehr lang ist, bitte ich dich um eine Chance auf Versöhnung. Jessica, du fehlst mir! Ich bitte dich inständig, dass wir gemeinsam das Weihnachtsfest feiern. Ich möchte hören, wie es dir geht und was du die letzten Jahre gemacht hast. Wenn du einen Freund oder Mann hast, bring ihn ruhig mit! Wie eine Familie, die wir nun mal sind, möchte ich das Fest der Liebe wiedervereint verbringen. In der Gewissheit, dass es wieder gut zwischen uns ist. Wenn du es ähnlich siehst, meine Nummer liegt anbei. Du kennst sie, es ist immer noch dieselbe wie zu dem Zeitpunkt als du ausgezogen bist und meine Adresse hast du ja nun auch. Ich würde mich riesig über eine Nachricht von dir freuen.
Bis dahin, alles Liebe, Mutti.

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